Prometheusianer verstehen den technischen Fortschritt im Sinne einer zunehmenden Diversität gelebter Werte in Form von immer vielfältigeren tatsächlich gelebten Lebensstilen. Aus jeder möglichen bukolischen Perspektive ist ein solcher zunehmender Pluralismus ein Zeichen des moralischen Verfalls, doch aus prometheischer Sicht ist er ein Zeichen des moralischen Fortschritts, der durch neue Technologien ermöglicht wird.
Wenn in einer Gesellschaft neue Lebensstile entstehen, entwickeln sich auch neue gelebte Werte. Hamilton schlug nicht nur einen Ausweg aus dem ländlichen Elend vor,1 als das sich Jeffersons bukolisches Idyll in Wirklichkeit darstellte. Sein Weg führte auch zur Abschaffung der Sklaverei, zum Entstehen des modernen Feminismus und zum allmählichen Rückgang von kolonialer Unterdrückung und Rassismus. Wir lassen heute nicht nur den Bukolismus der Weltausstellungen hinter uns, um uns einer grossartigeren technologischen Zukunft zuzuwenden. Wir verlassen auch seine paternalistischen Institutionen, die beschränkte Sicht der Natur als „Ressource“, engstirnige nationale Identitäten und die Intoleranz gegenüber nicht-normativen sexuellen Identitäten.
Die Grundlage jeder prometheischen Gesinnung ist eine Anerkennung des Vorrangs gelebter Werte gegenüber abstrakten Doktrinen. Das bedeutet nicht, dass gelebte Werte unkritisch akzeptiert oder nicht näher betrachtet werden sollen. Es bedeutet lediglich, dass gelebte Werte nach dem beurteilt werden sollten, was sie tatsächlich sind, und nicht aus Sicht einer Vision, die vorgibt, wie Werte sein sollten.
Der Übergang von Auto-zentrierten zu Smartphone-zentrierten Prioritäten im Stadtverkehr ist nur ein Aspekt eines weitaus umfassenderen Wandels von Hardware-zentrierten zu Software-zentrierten Lebensstilen. Ridesharing-Fahrer, Grossstädter ohne eigenes Auto und hohe Mobilität mit niedrigem Einkommen sind nur die Spitze des Eisbergs, der zahllose weitere sich entwickelnde Lebensstile umfasst, beispielsweise eBay- oder Etsy-Händler, Blogger, Indie-Musiker und Suchmaschinen-Marketer. Jeder neue, durch Software ermöglichte Lebensstil erweitert die Gesellschaft um eine neue Reihe gelebter Werte und führt zu einer Zunahme an offensichtlicher Weltlichkeit. Einige dieser Werte, beispielsweise eine Präferenz für Miete statt Besitz, sind zahlreichen neuen Lebensstilen zu eigen und bedrohen Bukoliken wie den „American Dream“, in dem Wohneigentum eine zentrale Rolle spielt. Andere Werte wiederum, beispielsweise Ernährungsgewohnheiten, werden zunehmend individualisiert und entkräften die Vorstellung einer einzigen „offiziellen Ernährungspyramide“, die für jedermann gültig ist.
Solche weitreichenden Veränderungen haben im Laufe der Geschichte häufig einen Wandel verursacht, der bis in die weltpolitische Ordnung hinaufreicht. Unabhängig davon, ob am Rande der Gesellschaft entstehende Ideologien2 im Mainstream Bedeutung erlangen, auf die sich dabei ändernden Proportionen und Prioritäten trifft dies in jedem Fall zu – und diese werden von neuen Lebensstilen und gelebten Werten angetrieben.
Für Technikhistoriker ist das nicht neu; bei ihnen führte es zu endlosen Debatten über die Frage, ob gesellschaftliche Werte den technologischen Wandel antreiben (sozialer Determinismus) oder ob der technologische Wandel die gesellschaftlichen Werte prägt (technologischer Determinismus). In der Praxis stellt sich diese Frage so nicht: Neue gelebte Werte und neue Technologien dringen gleichzeitig in Form neuer Lebensstile in die Gesellschaft ein. Dabei verschwinden alte Lebensstile nicht zwingend – auf der ganzen Welt gibt es beispielsweise noch immer Jeffersons Kleinbauern und Schmiede. Stattdessen verliert ihre Rolle in der sozialen Ordnung allmählich an Bedeutung . Folglich bestehen neue und alte Technologien und eine steigende Anzahl an Wertesystemen nebeneinander.
In anderen Worten: Der menschliche Pluralismus weitet sich letztendlich aus, um das volle Potential technologischer Möglichkeiten zu umfassen.3
Dies bezeichnen wir als das Prinzip des produktiven Pluralismus. Der produktive Pluralismus ermöglicht es dem positiven Kreislauf von Kaufkraft und Spillover-Effekten zu funktionieren. Ephemerisierung – die Fähigkeit, nach und nach mit weniger mehr zu schaffen – schafft Raum für die pluralistische Erweiterung möglicher Lebensstile und individueller Werte, ohne die Zukunft auf einen bestimmten Weg zu beschränken.
Die dieem Prinzip innewohnende Unvorhersehbarkeit bedeutet, dass sowohl der technologische als auch der soziale Determinismus unvollständige Modelle sind, die von Nullsummendenken geleitet werden. Die Vergangenheit kann die Zukunft nicht „determinieren“, weil die Zukunft komplexer und vielfältiger ist. Sie verkörpert neues Wissen über die Welt und neue moralische Weisheit in Form einer pluralistischeren und technologisch ausgereifteren Gesellschaft.
Eine besonders fruchtbare Art des produktiven Pluralismus, die wir als Netzwerkeffekt kennen, bewirkt, dass softe Technologien wie Sprache und Geld in historischer Sicht die grössten und vielfältigsten Steigerungen von Komplexität und Pluralismus verursachten. Wenn die Anzahl der Menschen steigt, die eine Sprache sprechen oder eine Währung akzeptieren, steigt auch das Potenzial dieser Sprache oder Währung auf Nicht-Nullsummenart. Durch gemeinsam genutzte Sprachen und Währungen wird es mehr Menschen möglich, trotz miteinander in Konflikt stehender Werte zu koexistieren, indem Streit mithilfe von Worten oder durch Handel beigelegt wird4 und nicht durch Gewalt. Aus diesem Grund ist zu erwarten, dass Software, die die Welt verzehrt, zu einer Explosion der Vielfalt möglicher Lebensstile führt und die Gesellschaft als Ganzes deutlich pluralistischer wird.
Und genau das erleben wir heute tatsächlich.
Das Prinzip löst ausserdem den scheinbaren Konflikt zwischen menschlichem Handeln und dem „Willen der Technik“: Der technologische Wandel wirkt in keinem Fall beschränkend auf das menschliche Handeln, sondern ist im Gegenteil seine vollständigste Verwirklichung. Die technologische Entwicklung erhält erst ihren unaufhaltsamen und unvermeidlichen Charakter, nachdem sie auf smarte Weise aus der autoritären Kontrolle ausbricht und Teil einer unvorhersehbaren und nicht festgeschriebenen kollektiven Erfindungskultur wird. Die Tatsache, dass Tausende von Einzelpersonen und Unternehmen relativ unabhängig voneinander an derselben technischen Frontlinie arbeiten, bedeutet, dass nicht nur jede potentielle Möglichkeit entdeckt werden wird, sondern dass verschiedene Personen sie entdecken werden, die mit unterschiedlichen Wertesystemen zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten tätig sind. Selbst wenn ein Erfinder sich dafür entscheidet, eine Idee nicht weiter zu verfolgen, ist die Chance gross, dass jemand anderes es tun wird. Somit werden letztlich sämtliche bukolischen Formen des Widerstands überwunden. Was hingegen verbleibt, ist ein rationaler Widerstand gegenüber Entwicklungswegen, die das Risiko bergen, das unendliche Spiel für alle zu beenden, und der in direktem Verhältnis zur Schwere der Risiken steht. Der weltweite Erfolg bei der Begrenzung der Verbreitung nuklearer und biologischer Waffen macht deutlich, dass der produktive Pluralismus nicht gleichbedeutend mit verrückten Wissenschaftlern und Amok laufenden James-Bond-Bösewichten ist.
Prometheusianer, die unerwartete Möglichkeiten mit weitreichenden Auswirkungen entdecken, treten in eine Zone der Serendipität ein. Das Universum scheint sich zu verschwören, um ihre Fähigkeiten ins Übermenschliche zu vergrössern. Bukoliker, die den Wandel gänzlich ablehnen, verwandeln das Fehlen von Handlungsfähigkeit in eine selbsterfüllende Prophezeiung und betreten eine Zone der Zemblanität. Das Universum scheint sich zu verschwören, um jegliche Handlungsfähigkeit, über die sie verfügen, zu verringern, bis bei ihnen der Eindruck entsteht, Technologie reduziere die menschlichen Möglichkeiten.
Macht ist im Gegensatz zu Fähigkeiten und Potenzial eine Nullsumme, da sie als Kontrolle über andere Menschen definiert wird. Der produktive Pluralismus impliziert, dass Bukoliker tendenziell beständig Macht an Prometheusianer abtreten. Langfristig ist dieser Machtverlust jedoch eher psychologischer als materieller Natur. In dem Maße, in dem uns die Ephemerisierung vom Bedürfnis nach Macht befreit, haben wir auch weniger Verwendung für Machtfülle.
Ein einfaches Beispiel ist ein häufiges Reizthema des 20. Jahrhunderts: die öffentliche Beschilderung. Heutzutage ringen diverse Sprachen um die Vormachtstellung bei der Beschilderung im öffentlichen Raum. In stark mehrsprachigen Ländern kann diese Auseinandersetzung gewaltsam werden. Doch automatisierte Übersetzungen und Augmented-Reality-Technologien5 haben das Potenzial, die Entscheidung, ob beispielsweise Schilder in den USA spanisch oder englisch beschriftet sein sollten, überflüssig zu machen. Eine beliebige Anzahl an Sprachen kann sich dieselben öffentlichen Räume teilen und die Notwendigkeit eines linguistischen Autoritarismus sinkt. Ganz wie körperlicher Sport in früheren Zeiten sublimieren nun softe Technologien wie Online-Communities, Videospiele und Augmented Reality langsam unsere stärkste Gewaltbereitschaft. Die Proteste in Ferguson, Missouri im Jahr 2014 sind ein bemerkenswertes Beispiel. Im Vergleich zu den sehr ähnlichen Bürgerrechtsaufständen in den 1960er Jahren war das einflussreichste Medium nicht die Gewalt, sondern Informationen in Form der Berichterstattung in sozialen Medien.
Die allgemeine Lehre, die wir aus dem Prinzip des produktiven Pluralismus ziehen können: Technologie befähigt Gesellschaften intellektuell, mit immer komplexeren wertorientierten Konflikten umzugehen. Wenn in Gesellschaften allmählich das Bewusstsein für Lösungsmechanismen geweckt wird, die keine autoritäre Kontrolle über das Leben von anderen erfordern, werden Macht und Zwang nach und nach durch Intelligenz und Informationen ersetzt.
[1] Siehe Deirdre McCloskey, The Bourgeois Virtues, 2007 für eine Behandlung der modernen urbanen Tendenz zur Romantisierung der Realität des vormodernen ländlichen Lebens.
[2] Heute sind viele Denkweisen erfolgreich, beispielsweise „Liberaltarismus“ und Krypto-Anarchismus, die einen besseren Sinn für Proportionen in Bezug auf neue Technologien widerspiegeln.
[3] Die Ähnlichkeit zum Parkinsonschen Gesetz, das besagt, dass Arbeit sich in genau dem Mass ausdehnt, wie Zeit für ihre Erledigung zur Verfügung steht, ist kein Zufall.
[4] McCloskey betrachtet diese Idee als Kennzeichen bürgerlicher Tugenden (siehe Fussnote 1, die Jane Jacobs’ Kommerzsyndrom der Werte ähneln. Beides sind jedoch keine Wertesysteme oder Ideologien per se, sondern Ausdrucksformen pluralistischer Toleranz und der Konfliktfreiheit zwischen unterschiedlichen Ideologien.
[5] Apps wie Google Translate sind hierzu bereits in der Lage, auch wenn die Technologie noch nicht in die öffentliche Infrastruktur vorgedrungen ist. Durch das Aufkommen von Augmented-Reality-Technologien werden solche Ansätze vermutlich weiter an Bedeutung gewinnen.