Kulturelle Eliten dienen als Hüter dominanter bukolischer Visionen und sind daher am anfälligsten dafür, unerwartete Entwicklungen als Degeneration zu begreifen. Vom griechischen Philosophen Platon1 (der im 4. Jahrhundert vor Christus über die Erfindung der Schrift klagte) bis zum chinesischen Gelehrten Zhang Xian Wu2 (der im 12. Jahrhundert die Erfindung des Drucks beklagte) ziehen sich alarmistisch-schwarzseherische Einwände zum technologischen Wandel als Konstante durch die Geschichte. Ein zeitgenössisches Beispiel findet sich in einem Artikel von Paul Verhaege3, der 2014 in The Guardian erschien:
Klagen über den sogenannten Verlust von Normen und Werten unserer Kultur sind allgegenwärtig. Doch unsere Normen und Werte stellen einen integralen und wesentlichen Bestandteil unserer Identität dar. Sie können demnach nicht verloren gehen, sondern nur verändert werden. Und genau das ist geschehen: Eine veränderte Wirtschaft spiegelt eine veränderte Ethik wider und bewirkt Änderungen in der Identität. Das aktuelle Wirtschaftssystem bringt das Schlechteste in uns zum Vorschein.
Aus der Sichtweise eines Bukolikers ist es wahrscheinlich, dass jede ungeplante Entwicklung eher zu einem Verlust als zu einem Zugewinn an Werten führt. In einer visionierten Welt, in der Autos fliegen können, aber das Fahren noch immer eine mehr zentrale als nebensächliche Funktion darstellt, kann Ridesharing nur so wahrgenommen werden, dass es Taxifahrer aus dem Gesamtbild drängt. Fahrerlose Autos – ein entlarvender Begriff, ähnlich wie „pferdelose Kutsche“ – können nur so gesehen werden, dass sie sämtliche Fahrer aus der Vision entfernen. Eine solch offensichtliche Wegnahme kann nur bedeuten, dass Werte und Menschen sich im Niedergang befinden (ungeachtet der Tatsache, dass wir noch immer zum Vergnügen auf Pferden reiten und höchstwahrscheinlich auch weiterhin zum Vergnügen Auto fahren werden).
Diese Tendenz, Anpassungen als Degeneration zu betrachten, ist möglicherweise die Ursache dafür, dass kulturelle Eliten erschreckend anfällig für den luddistischen Fehlschluss sind. Dies bezeichnet die Auffassung, dass die technologiebedingte Arbeitslosigkeit ein echtes Problem sei, eine Auffassung, die auf die Annahme zurückgeht, es gebe eine feststehende Menge an zu erledigender Arbeit. Unter dieser Annahme bleibt für Menschen weniger zu tun, sobald Maschinen mehr tun.
Prometheusianer tun dieses trügerische Argument gerne als Beleg mangelnder Vorstellungskraft ab, doch es steckt anderes, tieferes dahinter. Bukoliker sind durchaus willens und in der Lage, sich viele interessante Dinge vorzustellen, solange diese Dinge die Realität der bukolischen Vision näher bringen. Fliegende Autos – die einer kreativen Vorstellungskraft wahrlich keine Grenzen setzen – erscheinen besser als landgebundene Fahrzeuge, da es einem zugrunde liegenden Ideal menschlicher Vollkommenheit entspricht, aus Fahrer Piloten zu machen. Anders liegt der Fall bei Fahrer, die zu Smartphone-schwingenden freien Akteuren werden und den Archetypus des Organization Man verlassen: Sie entfernen sich von der bukolischen Vision im Sinne Thomas Jeffersons, der das als Fortschritt akzeptierte, was Kleinbürgern, Kleinbauern und Kleinstädtern nutzte. Die Fahrer früher pferdeloser Kutschen waren in dieser Sicht degenerierte Abhängige, die an grosse Unternehmen, grosse Städte und Standard Oil gebunden waren.
In anderen Worten: Bukoliker können sich Änderungen vorstellen, die die herrschende Gesellschaftsordnung aufrechterhalten, doch disruptive Änderungen erscheinen als profan. Infolgedessen erscheinen jene, die sich auf unerwartete Weise der Disruption anpassen, als ökonomisch und kulturell degeneriert, obwohl sie doch für diejenigen Erwerbsmöglichkeiten stehen, die sich auf unerwartete und unplanbare Weise neu ergeben.
Die Geschichte hat allerdings gezeigt, dass die Vorstellung einer technologischen Arbeitslosigkeit nicht nur falsch ist, sondern total falsch. Wenn heutzutage Ängste davor entstehen, dass Jobs durch Software verzehrt werden, ist dies nur die neueste Version des Arguments, dass „Menschen sich nicht ändern können“ und dass dieses Mal die wahren Grenzen der menschlichen Anpassungsfähigkeit erreicht wurden.
Dieses Argument ist absolut richtig – im Kontext der bukolischen Vision, die es hervorgebracht hat.
Sobald wir die bukolischen Scheuklappen entfernen, wird offensichtlich, dass die Zukunft der Arbeit in den unerwarteten und scheinbar degenerierten Verhaltensweisen von heute liegt. Zweifellos erlitt die Landwirtschaft von Jeffersons Bukolik bis 1890 einen verheerenden und permanenten Verlust von Arbeitsplätzen, von den Maschinen. Glücklicherweise wurde die Lage durch Hamiltons profane Ideen und die degenerierten Bewohner der industrialisierten Welt, auf die er hoffte, gerettet. Die Befürchtung der Anhänger Jeffersons wurde wahr: Sein idealer Mensch, der noble kleinstädtische Freibauer, starb praktisch aus. Heute ist der bukolische Idealmensch ein Organization Man mit hohem IQ und zahlreichen Abschlüssen und Zertifikaten, der vom allmählichen Aussterben bedroht ist, da er sich nicht mit dem IQ der Maschinen messen kann. Der degenerierte Mensch im Breaking-Smart-Modus, der in der von Software verzehrten Welt zuhause ist, hat jedoch keine solchen Ängste. Er ist viel zu beschäftigt damit, mit neuen Möglichkeiten zu experimentieren, als dass er imaginäre verlorene Utopien betrauern könnte.
John Maynard Keynes war zu scharfsinnig, um dem ludditischen Fehlschluss in dieser naiven Form zu erliegen. 1930 stellte er in seinem Konzept der Freizeitgesellschaft4 fest, dass die Wirtschaft sich beliebig erweitern könnte, um neue Bedürfnisse zu schaffen und zu befriedigen und mit leichter Zeitverzögerung die Arbeitskraft so schnell zu absorbieren, wie sie von der Automatisierung freigegeben wurde. Doch auch Keynes gelang es nicht, zu erkennen, dass neue Lebensstile auch neue Prioritäten, neue gelebte Werte und neue Gründe, arbeiten zu wollen, mit sich bringen. Daher betrachtete er das prometheische Fortschrittsmuster als notwendiges Übel auf dem Weg zu einer utopischen Freizeitgesellschaft, die auf traditionellen, universellen religiösen Werten basiert:
Ich sehe deshalb für uns die Freiheit, zu einigen der sichersten und zuverlässigsten Grundsätzen der Religion und der althergebrachten Werte zurückzukehren − dass Geiz ein Laster ist, das Eintreiben von Wucherzinsen ein Vergehen, die Liebe zum Geld abscheulich, und dass diejenigen am wahrhaftigsten den Pfad der Tugend und der massvollen Weisheit beschreiten, die am wenigsten über das Morgen nachdenken. Wir werden die Zwecke wieder höher werten als die Mittel und das Gute dem Nützlichen vorziehen. Wir werden diejenigen ehren, die uns lehren können, wie wir die Stunde und den Tag tugendhaft und gut vorbeiziehen lassen können, jene herrlichen Menschen, die fähig sind, sich unmittelbar an den Dingen zu erfreuen, die Lilien auf dem Feld, die sich nicht mühen und die nicht spinnen.
Aber Achtung! Die Zeit für all dies ist noch nicht gekommen. Für wenigstens noch einmal hundert Jahre müssen wir uns selbst und allen anderen vormachen, dass das Anständige widerlich und das Widerliche anständig ist; denn das Widerliche ist nützlich, das Anständige ist es nicht. Geiz, Wucher und Vorsicht müssen für eine kleine Weile noch unsere Götter bleiben. Denn nur sie können uns aus dem Tunnel der wirtschaftlichen Notwendigkeit ans Tageslicht führen.
Die Wahrnehmung eines moralischen Verfalls muss jedoch nicht notwendigerweise mit einem tatsächlichen Verfall zusammenhängen. Joseph Tainter beschreibt in The Collapse of Complex Societies:
Natürlich variieren Werte kulturell, sozial und individuell … Was ein Individuum, eine Gesellschaft oder eine Kultur sehr hoch schätzt, sehen andere mit Geringschätzung … Die meisten von uns heissen im Allgemeinen gut, was uns kulturell am ähnlichsten, am angenehmsten oder am verständlichsten ist. Im Ergebnis führt dies zu einem globalen Durcheinander eigentümlicher Ideologien, von denen jede den exklusiven Besitz der „Wahrheit“ beansprucht.
Das Konzept der Dekadenz erscheint besonders abträglich und ist bekanntermassen sehr schwer zu definieren. Dekadent ist ein Verhalten, das vom eigenen moralischen Kodex abweicht, besonders wenn der Schuldige sich zu einem früheren Zeitpunkt auf eine Weise verhielt, die man guthiess. Es gibt keine klare kausale Verbindung zwischen der Moralität von Verhalten und politischem Erfolg.
Einen tatsächlichen moralischen Verfall in einem irgendwie absolut messbaren Sinne gibt es nicht, doch die von den Bukolikern verspürte Angst ist real. Wer sich nach paternalistischer Autorität sehnt, gewinnt durch einen Zuwachs an möglichen Lebensstilen keine Freiheit, sondern ein Gefühl der Anomie. Es führt zu dem, was Philosoph George Steiner als Sehnsucht nach dem Absoluten bezeichnet hat.5 Forderungen nach einer Rückbesinnung auf Traditionen und einer kollektivistischen Hinwendung zum „next big thing“ (das oft ein modernisiertes „old thing“ ist, so wie vor einigen Jahren der Ruf nach einem „neuen Sputnik-Moment“ durch Präsident Obama) ist eines gemeinsam: die Sehnsucht nach einer einfacheren Welt. Doch Steiner betont:
Ich glaube nicht, dass es funktioniert. Auf der schonungslosen Ebene der Empirie haben wir in der Geschichte kein Beispiel … eines komplexen ökonomischen und technologischen Systems, das sich zurück auf eine einfachere, primitivere Stufe des Fortbestehens begeben hätte. Ja, es ist möglich – für Einzelne. Ich denke, wir alle kennen an unseren Hochschulen einen früheren Kollegen oder Studenten, der irgendwo seine eigenen biologisch angebauten Lebensmittel erntet, in einer Hütte im Wald lebt und versucht, fernab von allen Schulen seine Kinder zu bilden. Auf individueller Ebene kann das funktionieren. Gesellschaftlich halte ich es für Unsinn.
1974, im Jahr des Höhepunkts der Zentralisierung, beobachtete Steiner hellsichtig den Beginn der Transformation. Heute ist die Angst, die er auf dem Universitätscampus beobachtete, zu einem gesellschaftsweiten Zustand bukolischer Sehnsucht und einem durchdringenden Gefühl des moralischen Verfalls geworden.
Für Prometheusianer hingegen gibt es nicht nur keinen Verfall – es gibt sogar einen moralischen Fortschritt.
[1] In Phaidros beklagte Platon, die Erfindung der Schrift führe zu einer Verschlechterung unserer Gedächtnisleistung. Interessante Abhandlungen zu diesem Gedanken finden sich in The Information von James Gleick und The Shallows von Nick Carr.
[2] Buchkapitel: Stephen H. West. Time Management and Self Control: Self-help Guides in the Yuan. Text, performance, and gender in Chinese literature and music: essays in honor of Wilt Idema. E. J. Brill (2009).
[3] Neoliberalism has brought out the worst in us, Guardian, 2014.
[4] Siehe Fussnote [1] in Auf dem Weg in die Massenblütezeit.
[5] George Steiner, Nostalgia for the Absolute, 1974.