Auf dem Weg in die Massenblütezeit

In diesem Teil von Breaking Smart werde ich nicht versuchen, das Was und Wann der Zukunft vorherzusagen. Denn ein Kernelement des Hacker-Ethos besteht in der Überzeugung, dass es notwendig ist, Chancen gegenüber offen zu bleiben und Unwägbarkeiten als gegeben anzunehmen. Nur so können sich künftige Entwicklungen positiv entfalten. Oder wie es der Informatik-Pionier Alan Kay formulierte: „Es ist einfacher, die Zukunft zu erfinden als sie vorherzusagen.“

Genau das ist es, was Zehntausende von kleinen Teams auf der ganzen Welt gerade tun. Mit „klein“ sind dabei Gruppen gemeint, die „von maximal zwei Pizzas satt werden können“ – eine von Amazon-Gründer Jeff Bezos propagierte Daumenregel.

Nichts ist bekanntlich so ungewiss wie die Zukunft. Bei Vorhersagen läuft man aber nicht nur Gefahr, falsch zu liegen. Das grössere Risiko besteht darin, sich auf ein bestimmtes Was und Wann festzulegen, auf eine ganz bestimmte Version des Paradieses, das gesucht, bewahrt oder rückerobert werden soll. Dabei handelt es sich oft um einen gravierenden philosophischer Fehler, für den Menschen im bukolischen Modus besonders anfällig sind. Dieser Fehler besteht darin, der Zukunft Grenzen zu ziehen.

So wenig ich davon halte, sich allzu lange mit dem Was und Wann aufzuhalten,  so sehr plädiere ich dafür, stattdessen die Frage nach dem Wie möglichst konkret zu beantworten. Ich glaube nämlich, dass dank einer positiven Dynamik, die allmählich an Einfluss gewinnt, fast alle konkreten Lösungen für die Herausforderungen und Chancen der kommenden Jahrzehnte aus dem Hacker-Ethos heraus entstehen werden. Auch wenn dieses heute noch allenfalls eine Nebenrolle spielt. Genau auf eine solche Nebenrolle wird der Glaube reduziert werden, dass man durch umfassende Planung die Zukunft vorherbestimmen kann. Diejenigen, die prometheisch und à la breaking smart denken, werden eine zunehmend grössere Rolle bei der Gestaltung der Zukunft spielen. Demgegenüber werden diejenigen, die eine bukolische Haltung einnehmen und an traditionellen Denkmustern festhalten, einen immer kleineren Einfluss haben – und selbst diesen behalten sie nur noch in der immer kleiner werdenden Zahl von Branchen, für die eine klassische Zukunftsplanung immer noch das geeignetere Modell ist.

Bei Hackern erfolgt die Problemlösung durch Versuch und Irrtum, durch schrittweise Verbesserungen, durch ein Testen und Anpassen (teils automatisiert, teils durch Menschen). Daraus können wir vier Charakteristika ableiten, die darauf hinweisen, wie sich die Zukunft entwickeln wird.

Erstens: Obwohl gegenwärtig oft bezweifelt wird, dass die USA ihre weltweite Führungsrolle langfristig werden behaupten können, bleiben sie doch die grösste Kultur, die das pragmatische Hacker-Ethos verkörpert. Nirgendwo sonst wird dies deutlicher als im Silicon Valley. Die Vereinigten Staaten allgemein und das Silicon Valley im Besonderen werden daher auch künftig weltweit beispielhaft für den prometheischen technologiegetriebenen Wandel stehen. Und da sich die technischen Möglichkeiten einer virtuellen Zusammenarbeit stetig verbessern, wird die Wirtschaftskultur des Silicon Valley zunehmend zur globalen Wirtschaftskultur.

Zweitens: In Zukunft wird von sehr kleinen Menschengruppen mit sehr grosser Wirkung gemacht. Eine im Silicon Valley allgegenwärtige Erkenntnis lautet, dass der Kern der besten Software praktisch immer von Teams geschrieben wird, die aus weniger als einem Dutzend Leuten bestehen. Er wird eben nicht von grossen Entwicklungsteams geschrieben, die von einem Gremium geleitet werden. Anders ausgedrückt: Eine Zunahme des Wohlstands für alle wird eher durch kleine Zwei-Pizza-Teams erreicht als durch grosse Entwicklungsabteilungen. Skaleneffekte werden zunehmend durch locker beaufsichtigte Ökosysteme aus zusätzlichen Prozessteilnehmern erzielt. Der Wohlstand wird dabei auf eine Art und Weise generiert, die mit den traditionellen Instrumenten der Wirtschaftwissenschaften kaum zu bemessen ist. Heerscharen von Menschen, die als Konzern-Kids ins Berufsleben einsteigen und dort so lange als Konzern-Männer und –Frauen bleiben, bis sie als Konzern-Pensionäre aussteigen – das ist ein Auslaufmodell. Die Arbeitswelt wird wesentlich vielfältiger werden.

Drittens: In Zukunft werden sich Wohlstand und Lebensqualität auf der ganzen Welt graduell und fortlaufend verbessern – nicht plötzlich durch das Auftauchen einer utopischen Software-Welt (oder den Rücksturz in eine Dystopie). Dieser Prozess wird von Anpassungen, Neustarts und spielerischen Experimenten gekennzeichnet sein. Er ist fehlerbehaftet und unvollkommen. Aber im Grossen und Ganzen wird es sich um eine Aufwärtsentwicklung handeln – hin zu mehr Wohlstand für alle.

Viertens: Die Zukunft wird dadurch gekennzeichnet sein, dass die Kosten für Problemlösungen rapide sinken. Das gilt selbst für stark regulierte Bereiche der Wirtschaft wie das Gesundheits- und Hochschulwesen, die sich in der Vergangenheit als resistent gegen kostensparende Innovationen erwiesen haben. Bei Software-basierten Verbesserungen werden ungeeignete teure Verfahren meist durch besser geeignete preiswertere (nicht selten sogar kostenlose) Lösungen ersetzt. Dieser Substitutionsprozess wird sich weiter beschleunigen.

In der Gesamtschau vermitteln diese vier Charakteristika das Bild eines ungeordneten, schleichenden Fortschritts, den der Ökonom Bradford Delong als ein „Schlendern in Richtung Utopie“ bezeichnet hat. Gemeint sind eine allmähliche Steigerung der Lebensqualität sowie eine allmähliche Reduzierung der Kosten für einen zunehmenden Teil der Weltbevölkerung.

Eine grössere Auswirkung ist unmittelbar offensichtlich: Die asymptotische Entwicklung schafft für Verbraucher ein Paradies. Als Verbraucher werden wir mehr für weniger bekommen – und zwar viel mehr für viel weniger. Die grösste Unbekannte ist zurzeit noch unsere Zukunft als Produzenten. Das führt uns zu einer Frage, die viele als die derzeit zentrale ansehen: Wie sieht die Zukunft der Arbeit aus?

Der Schlüssel zu diesem Problem, mit der wir uns im Kapitel Understanding Elite Discontent näher befassen, ist in Ansätzen bereits 19301  bei John Maynard Keynes zu finden, auch wenn dieser sein Ergebnis nicht mochte: Künftig wird die Mehrheit der Bevölkerung damit beschäftigt sein, die neuen Bedürfnisse ihrer Mitmenschen zu wecken und zu befriedigen. Und zwar auf immer wieder völlig neue Weisen, die auch weit vorausschauende Visionäre nicht erahnen können.

Wir vermögen nicht genau vorherzusagen, was die Arbeitskräfte der Zukunft tun werden, d. h. welche Wünsche und Bedürfnisse sie befriedigen werden. Aber wir sind doch in der Lage, einiges dazu zu sagen, wie sie es tun werden. Die Arbeit wird einen experimentellen Charakter annehmen, der von Versuch und Irrtum geprägt ist. Und sie wird in einer Umgebung geleistet, die von umfassendem Feedback, Selbstkorrektur, Anpassung, fortlaufender Verbesserung und lebenslangem Lernen geprägt ist. Die soziale Ordnung, in die das Arbeitsleben eingebettet ist, wird ein wesentlich flexiblerer Abkömmling unserer zwei heutigen Arbeitswelten sein –einerseits der sicheren, aber auch erdrückenden Welt der Angestellten und andererseits der freieren, aber auch prekären Welt der Selbstständigen, Agenturen Projekt- und Zeitverträge.

Anders ausgedrückt: Das Hacker-Ethos wird weltweite Verbreitung finden. Und für die Erwerbsbevölkerung gilt die Devise breaking smart. Die Verbreitung des Hacker-Ethos wird zu einem Phänomen führen, das der Wirtschaftswissenschaftler Edmund Phelps als Massenblütezeit (mass flourishing) 2 bezeichnet hat. Er beschreibt damit einen Zustand der Wirtschaft, in der einen die Arbeit herausfordert und gerade deshalb als erfüllend empfunden wird. Anspruchslose Routinetätigkeiten werden Maschinen übertragen.

Frühere Perioden einer Massenblütezeit, wie zum Beispiel die Frühzeit der industriellen Revolution, waren von kurzer Dauer und wurden nach einigen Jahrzehnten von Gesellschaften abgelöst, in denen eine neue Mittelschicht die Mehrheit bildete. Arbeit und Leben wurden berechenbar und schablonenhaft. Dieses Mal wird der Zustand einer Massenblütezeit hingegen von Dauer sein: Wir bewegen uns langsam in Richtung einer für Verbraucher und Produzenten gleichermassen idealen Gesellschaft.

Falls Ihnen diese Vision zu pathetisch erscheint, vergleichen Sie sie noch einmal mit anderen „soften“ Technologien. Software ist vielleicht seit Erfindung der Schrift und des Geldes die Technologie, die die Vorstellungskraft des Menschen am stärksten erweitert – und sie ist möglicherweise sogar wirkmächtiger als diese beiden. Wenn wir davon ausgehen können, dass dies die Welt mindestens ebenso dramatisch verändern wird, dann ist die oben beschriebene Perspektive kein übersteigerter Optimismus, sondern nur nüchterner Realismus.

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[1] Der 1930 publizierte Artikel von John Maynard Keynes, Economic possibilities for our grandchildren (auf Deutsch unter dem Titel Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkelkinder erschienen), bildet nach wie vor die beste Grundlage zum Verständnis der technologischen Arbeitslosigkeit. Keynes hat begriffen, dass technologische Arbeitslosigkeit vorübergehender Natur ist und dass sich rasch neue Bedürfnisse und Wünsche herausbilden, die wieder für mehr Beschäftigung sorgen. Für ihn war dies ein mentales Problem, das von endlos expandierendem Materialismus und geistiger Degeneration gekennzeichnet war. Wir werden seinen Lösungsvorschlag, das Konzept einer Freizeitgesellschaft, in einem späteren Aufsatz behandeln.

[2] Das 2014 von Edmund Phelps verfasste Werk Mass Flourishing: How Grassroots Innovation Created Jobs, Challenge, and Change vermittelt einen Überblick über den Aufstieg des Korporatismus und dessen alles andere erdrückende Auswirkungen auf die wirtschaftliche Dynamik, die für die frühen Jahrzehnte der industriellen Revolution typisch war. Phelps untersucht kritisch eine Vielzahl ökonomischer Indikatoren (von der Jobzufriedenheit über Wertekategorien bis hin zur Arbeitslosigkeit und Wachstumsdaten) und entwickelt daraus ein starkes Plädoyer für die Abschaffung korporatistischer Organisationsmodelle. Im Vergleich zu dem weit intensiver debattierten Wirtschaftsbestseller aus demselben Jahr, Das Kapital im 21. Jahrhundert von Thomas Piketty der sich stark auf die ungleiche Verteilung des Einkommens fokussiert, verfolgt das Werk von Phelps einen sehr viel breiteren Ansatz und präsentiert mehrere Modelle. Für Leser, die an einem breiten Verständnis des wirtschaftlichen Kontextes von software is eating the world interessiert sind, ist das Buch von Phelps die wahrscheinlich beste Einzelquelle.