Der Zauber des Bukolismus

In der Kunst bezieht sich der Begriff „bukolisch“ auf ein Genre der Malerei und Literatur, das romantisierte und idealisierte Porträts eines weidewirtschaftlichen Lebensstils zeichnet, üblicherweise für ein urbanes Publikum, das noch nie mit dem tatsächlichen Elend und der Unterdrückung des vorindustriellen ländlichen Lebens in Berührung gekommen war.

Biblical Pastoralism: drawing inspiration for the 21st century from shepherds.

Innerhalb des religiösen Brauchtums werden Hirtenmotive häufig mit den Symbolen reiner und unverfälschter Daseinszustände verbunden. So ruft beispielsweise bukolische Kunst und Literatur im Westen oft Erinnerungen an die Erzählung vom Garten Eden wach. In islamischen Gesellschaften wird auf ähnliche Weise oft der Gedanke an das erste Kalifat evoziert.

Das Konzept der Bukolik (englisch: Pastoral) ist hilfreich, um idealisierte Vorstellungen jeder Gesellschaft zu verstehen, ob real oder imaginär, vergangen, gegenwärtig oder zukünftig. In American Pastoral („Amerikanisches Idyll“) von Philip Roth ist der Begriff beispielsweise eine Anspielung auf den idealisierten amerikanischen Lebensstil, den der Protagonist Seymour „der Schwede“ Levov geniesst, bevor dieses Idyll von den sozialen Unruhen der 60er Jahre ruiniert wird.

Im Zentrum jeder bukolischen Geschichte stehen auf das Wesentliche reduzierte Vorstellungen dessen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, beispielsweise Adam und Eva oder der „Organization Man“ von William Whyte, die im Kontext einer bestimmten sozialen Ordnung gesehen werden (in diesem Fall patriarchalisch). Von diesen Archetypen aus gelangen wir zu reinen und tugendhaften idealisierten Lebensstilen. Lebensstile, die von diesen Vorstellungen abweichen, erscheinen als korrupt und von Lastern getrieben. So ist die Überzeugung, dass „Menschen sich nicht ändern“, nicht nur eine näherungsweise Beschreibung, sondern auch eine Vorschrift: Menschen sollen sich nicht verändern, es sei denn, sie täten es, um sich weiter dem Ideal anzugleichen, dem sie bereits ähnlich sehen sollten. Diese Überzeugung rechtfertigt das Erschaffen von Technologie, die den vorhersehbaren und unveränderbaren Idealen dient – und rechtfertigt es gleichzeitig, davon abweichende, unerwartete Nutzungsweisen von Technologie als abartig und verkommen zu verdammen.

Unser immer absurderes Verlangen nach Produkten wie Raketenrucksäcken und fliegenden Autos verdanken wir einem Phänomen, das wir als „Bukolismus der Weltausstellungen“ bezeichnen könnten, da diese Vorstellung stark von den Weltausstellungen in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts geprägt wurde. Schon auf seinem damaligen Höhepunkt wurde er bereits von TV-Serien wie Familie Feuerstein und Die Jetsons persifliert. Diese Sendungen stellten im Grunde die soziale Ordnung der 1950er Jahre dar, voller „Organization Families“, die in vergangene oder zukünftige bukolische Umgebungen versetzt werden. Der Humor dieser Sendungen beruht im Erkennen des eskapistischen Un-Realismus durch die Zuschauer.

Not quite as clever as the Flintstones or Jetsons, but we try.

Der stark von der zeitgenössischen Luft- und Raumfahrttechnologie inspirierte Bukolismus der Weltausstellungen stand für eine Zukunft, von der man sich vorstellte, dass sie von fliegenden Autos, Raketenrucksäcken und glamourösen Fluggesellschaften wie Pan Am geprägt sein würde. Fliegende Autos verhiessen eine Modernisierung des vertrauten Lebensstils der Kleinfamilie und Raketenrucksäcke sprachen die gleichen individualistischen Instinkte an wie Motorräder. Fluggesellschaften wie Pan Am waren nicht nur ein elementarer Bestandteil des militärisch-industriellen Komplexes, sondern verdankten ihren „Glamour“ teilweise der bewussten Fortschreibung der sexistischen Kultur der 1950er Jahre. In dieser Sichtweise wirkten bahnbrechende Entwicklungen wie das Aufkommen deutlich effizienterer Low-Cost-Fluglinien in den 1970ern wie ein Niedergang nach einem „goldenen Zeitalter“ der Luftfahrt.

Zweifellos war die Zukunft der Luftfahrt, die tatsächlich Wirklichkeit wurde, erheblich interessanter als die Zukunftsvisionen des Bukolismus der Weltausstellungen. Kostengünstige Langstreckenflüge öffneten den Weg in eine globalisierte und multikulturelle Zukunft, rissen Barrieren zwischen voneinander abgeschotteten Gesellschaften nieder und erweiterten die globale Mobilität des Menschen um ein Vielfaches. Gleichzeitig trugen sie dazu bei, den institutionalisierten Sexismus hinter dem Glanz der Luftfahrtindustrie abzubauen. Diese Entwicklungen wurden weniger durch Verbesserung der Luftfahrttechnik ermöglicht als vielmehr durch Softwaretechnologien,1 die nach den 1970er Jahren entstanden. Es waren genau diese Technologien, die eine „Breaking-Smart“-Entwicklung aus dem erdrückenden Einfluss des militärisch-industriellen Komplexes heraus einleiteten.

Im Jahr 2012 gab es zum ersten Mal in der Geschichte mehr als eine Milliarde Auslandsreisen weltweit, und das vor allem dank dieser Entwicklungen.2 Software hatte die elitäre Luftfahrt verschlungen und demokratisiert. Heutzutage verschlingt die Software den Flugverkehr noch gründlicher, wie die aktuelle Explosion im Bereich der Drohnentechnologie zeigt. Auch jetzt wieder verpassen diejenigen, die auf Raketenrucksäcke und fliegende Automobile fixiert sind, die bedeutendsten und interessantesten Entwicklungen, da diese nicht dem entsprechen, was sie vorhersagten. Wenn Bukoliker Drohnen überhaupt beachten, dann sehen sie in ihnen hauptsächlich moralisch fragwürdige militärische Waffen. Dass Drohnen Massentötungstechnologien wie Flächenbombardements ersetzen und die Zahl der nicht militärischen Anwendungsbereiche stetig wächst, wird ignoriert.

Genaugenommen ist der gesamte Bukolismus der Weltausstellungen eine Angelegenheit von privilegierten Bürgern, die im Glauben, für alle zu sprechen, „schnellere Pferde“ für die ganze Gesellschaft verlangen (im Sinne des nicht belegten3 Zitats, das Henry Ford zugesprochen wird: „Hätte ich meine Kunden gefragt, was sie wollen, sie hätten schnellere Pferde verlangt.“).

Glücklicherweise erwies sich sowohl in den USA als auch in der Welt insgesamt die Zukunft als weiser als alle limitierenden bukolischen Visionen. Die Geschichte der Luftfahrt ist nur eines von vielen Beispielen dafür, dass es plötzlich viel besser Licht aussieht, wenn man bukolische Obsessionen ausser Acht lässt und das tatsächliche Geschehen betrachtet. An die Stelle der beschränkten Vorstellungen der 1950er ist jetzt sehr viel Bedeutenderes getreten: Indem die Software die Luftfahrttechnologie vereinnahmte, ermöglichte sie es ihr, sich in Richtung ihres maximalen Potentials zu entwickeln.

Wenn also bukolische Visionen so beschränkend sind, warum hängen wir dann so an ihnen? Wo kommen sie überhaupt her? Ironischerweise stammen sie aus prometheischen Zeiten der Evolution, die zu erfolgreich wurden.

So entstammte der Bukolismus der Weltausstellungen beispielsweise einer prometheischen Periode in den Vereinigten Staaten, die in den 1790er Jahren von Alexander Hamilton eingeläutet wurde. Hamilton erkannte das enorme Potential der industriellen Fertigung und argumentierte in seinem 1792 erschienenen Report on Manufactures4, dass die noch jungen Vereinigten Staaten eine Position als industrielle Grossmacht anstreben sollten. Fast das ganze 19. Jahrhundert hindurch konkurrierten Hamiltons Ideen mit Thomas Jeffersons bukolischer Vision einer landwirtschaftlichen dörflichen Lebensweise, einer romantisierten und bereinigten Version der bereits existierenden Gesellschaft, um politischen Einfluss.5

Zu jener Zeit lebenden freien Amerikanern erschien Jeffersons Vision vermutlich als greifbar, von eindeutig hohem Wert und gerade so erreichbar. Die Vorstellungen von Hamilton hingegen wirkten spekulativ, ungewiss und profan und erinnerten an den Schmutz und Rauch des Grossbritanniens der frühen Industrialisierung. Tatsächlich war es Jeffersons provinzielle und eingeschränkte Sichtweise, die fast 60 Jahre lang die amerikanische Politik dominierte. Erst zu Zeiten des Amerikanischen Bürgerkriegs führten die Widersprüche in Jeffersons Vision dazu, dass sie an politischer Macht einbüsste. Heute liefert Jeffersons Bukolik zwar noch immer eine kraftvolle Symbolik für die Reden von Politikern, doch alles, was von ihr bleibt, ist ein nostalgisches kulturelles Gedächtnis vom dörflich-landwirtschaftlichen Leben.

Im gleichen Zeitraum entwickelten sich Hamiltons Ideen durch ihren überwältigenden Erfolg von einer vagen Richtung in den 1790ern binnen eines Jahrhundert zu einer stetig reifenden industriellen Gesellschaftsordnung. In den 1930er Jahren allerdings bukolisierte diese Ordnung zu einer verlockenden Vision von Raketenrucksäcken und fliegenden Autos in einer riesigen industrialisierten und zentralisierten Gesellschaft. Wenige Jahrzehnte später, nach dem Ende des Apollo-Programms, wandelte sich dies zu einem Gefühl der Ausweglosigkeit und des Versagens. Ein überwältigender, erdrückender militärisch-industrieller Komplex überspannte die technologische Welt. Diese wiederum metastasierte in eine ganze Old Economy, die man als too big to fail bezeichnen kann – zu gross, um zu scheitern. Ein Indikator für die fehlende Neuorientierung besteht darin, dass viele zeitgenössische amerikanische Politiker noch immer auf dieselbe Weise auf die materielle Produktion fokussiert bleiben wie Alexander Hamilton im Jahr 1791. Was damals ein vorausschauender Richtungssinn war, hat sich heute zur nostalgischen Sehnsucht nach einer obsoleten utopischen Vision entwickelt. Doch auch wenn wir uns aus unserer irrationalen Verbundenheit mit Jeffersons Idyll gelöst haben, ist der Bukolismus der Weltausstellungen noch zu real, als dass wir sie loslassen könnten.

Wir fühlen uns zu Bukoliken hingezogen, weil sie uns einen gegenwärtigen Zustand der Sicherheit und Stabilität und gleichzeitig das utopische Zukunftsversprechen vollkommen perfektionierter Sicherheit und Stabilität bieten. Das Erreichen der Utopie erscheint als eine wohlverdiente Belohnung für hart erkämpfte prometheische Siege. In bukolischen Utopien hoffen die Sieger historisch begrenzter Spiele, ihre Gewinne zu sichern und sich auf ewig auf ihren Lorbeeren auszuruhen. Die Schattenseite besteht freilich darin, dass Bukoliken auch Phantasien von absoluter und ewiger Macht über das Schicksal der Gesellschaft repräsentieren: Absolute Utopien für die Gläubigen, die notwendigerweise für die Ungläubigen zur Dystopie werden. Totalitäre Ideologien des zwanzigsten Jahrhunderts wie Kommunismus und Faschismus sind ein Produkt von bukolischen Denkweisen in ihrer schädlichsten Form. Jeffersons Traum war ein Alptraum für farbige Amerikaner.

Wenn bukolische Phantasien beginnen, unter dem Gewicht ihrer eigenen internen Widersprüche zusammenzubrechen, werden lang unterdrückte Energien freigesetzt. Das Ergebnis ist ein gesellschaftlicher Zustand, der von weit verbreiteten Experimenten mit unterschiedlichen Lebensstilen geprägt ist, die auf zuvor unterdrückten Werten basieren. Für diejenigen, die heutzutage mit einem Zusammenbruch des bukolischen Projekts der Weltausstellungen konfrontiert sind, erscheint dies wie ein unumkehrbares Abgleiten in Korruption und moralischen Verfall.

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[1] Ein aufschlussreiches Mass sind die „Kosten pro angebotenem Sitzplatzkilometer“, der zur Messung der Effizienz von Fluglinien hauptsächlich verwendete Wert. Diese Kosten sind seit den 1970er Jahren um 40 % gesunken. Siehe: R. John Hansman, The Impact of Information Technologies on Air Transportation , AIAA Conference, 2005.

[2] Over 1.1 billion tourists traveled abroad in 2014, Pressemitteilung der UN World Tourism Organization, 2014.

[3] Das Zitat „If I asked my customers what they wanted, they would have asked for a faster horse“ („Hätte ich meine Kunden gefragt, was sie wollen, hätten sie schnellere Pferde verlangt“) wird häufig Henry Ford zugeschrieben, doch es gibt keine Belege dafür, dass er diesen tatsächlich sagte. Dennoch ist er eine hilfreiche Metapher.

[4] Informationen zum historischen Kontext von Hamiltons Report on Manufactures finden sich im entsprechenden Wikipedia-Artikel (bisher nur in englischer Sprache). Das eigentliche Dokument ist hier verfügbar.

[5] Das Buch Land of Promise von Michael Lind (2012) bietet eine umfassende Übersicht über das Wechselspiel der Ideen von Hamilton und Jefferson seit den 1780er Jahren. Auch wenn Lind sich auf die Vereinigten Staaten konzentriert, prägte ein ähnlicher Konflikt den Verlauf der Industrialisierung in jeder grossen Volkswirtschaft. Lind spricht sich mit Nachdruck für die Modelle von Hamilton aus, aber versäumt eine adäquate Unterscheidung zwischen den zugrunde liegenden prometheischen Werten und den korporatistischen ökonomischen Organisationsmodellen, die sich in den 1950er Jahren entwickelten. Dies ist ein Schwachpunkt in der ansonsten hervorragenden Behandlung der Dynamik. Mass Flourishing von Edmund Phelps ist eine empfehlenswerte Begleitlektüre, die einige der Schwachstellen von Linds Betrachtung ausgleicht.