Tüftelei versus Ziele

Das Aufrüsten eines Computers, der so gross ist wie ein ganzer Planet, ist natürlich um einiges komplexer als der Wechsel von einem alten zu einem neuen Smartphone. Daher ist es wenig überraschend, dass wir schon fast ein halbes Jahrhundert dafür gebraucht haben und immer noch nicht fertig sind.

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Seit 1974, dem Jahr des Höhepunkts der Zentralisierung, tauschen wir eine geographische Welt, die auf dem Funktionieren von Atomen beruht, gegen eine Welt ein, die durch Bits in Netzwerken funktioniert. Der Prozess ähnelte dem Wachstum eines Weinstocks, der allmählich ein alterndes Gebäude bedeckt und selbst in die kleinsten Ritzen des Mauerwerks eindringt, um eine ganz neue architektonische Logik zu schaffen.

Der Unterschied zwischen beiden Welten ist einfach: Die geographische Welt löst Probleme, indem sie sich Ziele setzt buchstäbliche oder metaphorische territoriale Nullsummenkonflikte austrägt. In der vernetzten Welt ist die Problemlösung von Serendipität geprägt, von Innovationen, die Annahmen darüber, wie Ressourcen genutzt werden können, ausser Kraft setzen, sodass Ressourcen häufig ihren rivalisierenden Charakter verlieren und plötzlich in unerwarteter Fülle vorhanden sind.

Die zielorientierte Problemlösung ist eine logische Weiterführung des Trugschlusses des Politikers: Es muss etwas geschehen; das hier ist etwas; das hier muss geschehen. Derartige Ziele entstehen meist durch die Kluft zwischen Realität und utopischen Visionen. Lösungen werden vom deterministischen Prinzip form follows function1 angetrieben, das im autoritären Hochmodernismus des frühen 20. Jahrhunderts entstand. In seiner einfachsten Form lässt sich der Prozess folgendermassen beschreiben:

  1. Problemauswahl: Wähle ein klares und wichtiges Problem
  2. Ressourcenbeschaffung: Gewinne Ressourcen durch das Versprechen, das Problem zu lösen
  3. Lösung: Löse das Problem im Rahmen der zugesagten Bedingungen

Dieses Modell ist so wohlbekannt, dass es eine tautologische Entsprechung zu „Problemlösung“ zu sein scheint. Es ist nicht einfach zu verstehen, wie Problemlösung überhaupt anders funktionieren könnte. Gleichzeitig ist dieses Modell ein getarnter autoritärer Gebietsanspruch. Das Ausmass eines Problems definiert eine Grenze geltend gemachter Autorität. Die Beschaffung von Ressourcen erfordert eine Beteiligung am Nullsummenwettbewerb, um sie als eigene Ressourcen in das Gebiet der eigenen Grenzen zu bringen. Die Lösung des Problems bedeutet üblicherweise, innerhalb dieser Grenzen die versprochenen Ergebnisse zu schaffen, ohne sich darum zu kümmern, was ausserhalb geschieht. Das bedeutet, dass unangenehme und unerwünschte Konsequenzen – von Wirtschaftswissenschaftlern als soziale Kosten bezeichnet – meist ignoriert werden, besonders wenn sie diejenigen betreffen, die sich am wenigsten wehren können.

Die Einschränkungen dieses Ansatzes haben wir bereits in vorherigen Essays behandelt, daher soll an dieser Stelle nur eine kurze Zusammenfassung erfolgen: Die Wahl eines Problems aufgrund seiner „Wichtigkeit“ bedeutet, bukolische Problemstellungen und Prioritäten unkritisch zu akzeptieren. Das Eingrenzen der Lösung durch eine verlockende „Vision“ des Erfolgs bedeutet, die kreativen Möglichkeiten für alle, die zu einem späteren Zeitpunkt beteiligt sind, zu beschränken. Die Innovation wird erheblich eingeschränkt: Es ist nicht möglich, mit den gegebenen Ressourcen an unerwarteten Ideen zu arbeiten, die andere Probleme lösen, oder sogar auf unbestimmte Zeit der Richtung der maximalen Interessantheit zu folgen. Somit sind die unbemerkten Opportunitätskosten, die durch verpasste Chancen entstehen, möglicherweise höher als die sichtbaren Vorteile. Gleichzeitig kann nicht einfach Lösungen nachgegangen werden, die andere (und möglicherweise deutlich kostengünstigere) Ressourcen erfordern als die, um die zuvor konkurriert wurde: Probleme müssen auf eine vorab genehmigte Art und Weise gelöst werden.

Dieser Prozess kommt mit Unsicherheit oder Unklarheit nur sehr schlecht zurecht, geschweige denn, dass er von ihnen angetrieben würde. Selbst eine positive Unsicherheit wird zu einem Problem: Ein unerwarteter Budgetüberschuss muss schnellstens aufgebraucht werden, selbst wenn dies Verschwendung bedeutet, da das Budget sonst im nächsten Jahr sinken könnte. Unerwartete neue Informationen und Ideen, besonders diejenigen, die aus neuen Perspektiven entstehen – dem Treibstoff der Innovation –, sind grundsätzlich etwas Negatives und müssen wie ungewollte Störungen behandelt werden. Eine neue Smartphone-App, die von älteren Vorschriften noch nicht erfasst oder vorausgeahnt wurde, muss verboten werden.

Im letzten Jahrhundert war das häufigste Ergebnis der zielorientierten Problemlösung in komplexen Fällen das Scheitern.

Der Ansatz der vernetzten Welt beruht auf einem vollkommen anderen Gedanken. An seinem Beginn stehen keine utopischen Ziele oder durch Versprechen oder Drohungen erhaltenen Ressourcen. Stattdessen beginnt er mit ergebnisoffenen pragmatischen Tüfteleien, die durch das Unerwartete gedeihen. Dieser Prozess ist auf den ersten Blick nicht einmal als Problemlösungsmechanismus erkennbar:

  1. Eintauchen in relevante Ströme von Ideen, Menschen und freien Fähigkeiten
  2. Experimentieren zum Aufdecken neuer Möglichkeiten durch Versuch und Irrtum
  3. Zunutzemachen und Ausbauen von dem, was unerwartet gut funktioniert

Während sich der Trugschluss des Politikers darauf konzentriert, Dinge zu reparieren, die im Vergleich zu einem Ideal der unveränderlichen Perfektion defekt erscheinen, konzentriert sich die Vorgehensweise des Tüftlers auf Möglichkeiten zur bewussten Änderung. Scott Adams, der Autor des Comicstrips Dilbert, bemerkte: „Normale Leute verstehen dieses Konzept nicht. Sie denken: Wenn es nicht kaputt ist, dann reparier es auch nicht. Ingenieure denken: Wenn es nicht kaputt ist, dann hat es auch noch nicht genug Funktionen.“2

Was in einer unveränderlichen Utopie wie eine unnötige und zwecklose Unterbrechung scheint, wird in einer veränderlichen Umgebung zu einer Möglichkeit, einen Schritt voraus zu sein. Das ist der zentrale Unterschied zwischen den beiden Problemlösungsprozessen: Bei der zielorientierten Problemlösung wird die ergebnisoffene Ideenbildung grundsätzlich als negativ betrachtet. Bei der Tüftelei ist sie etwas Positives.

Die erste Phase – sich relevanten Strömen auszusetzen – erscheint möglicherweise als müssiges Prokrastinieren auf Facebook und Twitter oder als unproduktives Herumspielen mit coolen neu entdeckten Tools auf Github. Doch in Wirklichkeit geht es darum, für neu entstehende Möglichkeiten und Bedrohungen sensibilisiert zu bleiben. Wie wir in früheren Essays gesehen haben, nährt sich das ständige Experimentieren durch Basteleien an allem, was gerade verfügbar ist. Benachbarte zielorientierte Prozesse betrachten diese Ressourcen oft als „Abfall“: ein Fall von sozialen Kosten, die zu Vermögenswerten werden. So beginnt beispielsweise ein grosser Teil der modernen Datenwissenschaft mit „Datenüberhängen“ – Daten, die für eine Organisation keinen direkten zielorientierten Nutzen haben und in einer Umgebung mit hohen Speicherkosten üblicherweise gelöscht würden. Dieser Prozess beginnt mit Experimenten mit einem niedrigen Aufwand, bei denen die Kosten bei Fehlschlägen ebenfalls begrenzt sind. Nicht beschränkt sind hingegen die Vorteile dieser Vorgehensweise: Unerwartete Verwendungsmöglichkeiten für neue Funktionen können ohne jegliches Limit entdeckt und produktiv genutzt werden.

Tüftler – egal ob Individuen oder Organisationen – die über wertvolle, aber unausgelastete Ressourcen verfügen, neigen dazu, der Intuition zuwider zu handeln: Anstatt ungenutzte Ressourcen für sich zu behalten, ermöglichen sie so vielen Menschen wie möglich den Zugriff darauf und knüpfen gleichzeitig möglichst wenige Bedingungen an ihre Nutzung, in der Hoffnung, Spillover-Tüfteleien zu katalysieren. Wenn dieses System funktioniert, bilden sich florierende Ökosysteme der ergebnisoffenen Innovation und ein steter Strom neuen Wohlstands beginnt zu fliessen. Diejenigen, die interessante und einzigartige Ressourcen so offen mit anderen teilen, gewinnen ein unschätzbares Wohlwollen, das nicht mit Geld aufzuwiegen ist. Die Open-Source-Bewegung, das Android-Betriebssystem von Google, Big-Data-Technologien, das Arduino-Experimentierset und der OpenROV-Unterwasserroboter sind sämtlich auf diese Weise entstanden. Kürzlich öffnete Tesla freiwillig den Zugang zu seinen Elektrofahrzeug-Technologiepatenten, unter Bedingungen, die im Vergleich zu den üblichen Branchenstandards der Automobilbranche extrem liberal waren.

Die Tüftelei ist ein Prozess der Serendipität sucht., Er toleriert Unsicherheit und Unklarheiten nicht nur, sondern er erfordert sie sogar. Wenn die richtigen Voraussetzungen geschaffen werden, entsteht ein Schneeballeffekt der positiven Überraschungen, die zu noch mehr positiven Überraschungen führen.

Zu einem Problemlösungsmechanismus wird dies durch die Kombination aus der Vielfältigkeit individueller Sichtweisen und dem Gesetz der grossen Zahlen (wonach seltene Ereignisse sehr wahrscheinlich werden können, wenn nur genügend Versuche ausgeführt werden). Wenn eine steigende Anzahl extrem unterschiedlicher Individuen auf diese Weise verfährt, steigt allmählich die Wahrscheinlichkeit, dass ein bestimmtes Problem durch Serendipität und neue Ideen gelöst wird. Das ist das Glück der Netzwerke.

Lösungen, die auf Serendipität basieren, sind nicht nur billiger als zielorientierte Lösungen. Sie sind meistens auch kreativer und eleganter und erfordern deutlich weniger Konflikte. Manchmal sind sie so kreativ, dass nur schwer zu erkennen ist, dass sie überhaupt ein bestimmtes Problem lösen. So tragen beispielsweise Telearbeit und Videokonferenzen stärker zur „Lösung“ des Problems der Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen bei als manche alternativen Energietechnologien, doch sie werden üblicherweise als Technologien für flexible Arbeitsweisen und nicht als Energiesparprojekte wahrgenommen.

Aus der Tüftelei geborene Ideen sind keine gezielten Lösungen für spezifische Probleme wie „den Klimawandel“ oder „die Rettung der Mittelklasse“, sondern können deutlich breiter angewandt werden. So werden nicht nur aktuelle Probleme auf unerwartete Art und Weise gelöst, sondern durch Überschuss und Spillover ausserdem neue Werte geschaffen. Das erste deutliche Anzeichen für das Wirken einer solchen Serendipität ist das unerwartet schnelle Wachstum und Aneignung einer neuentdeckten Fähigkeit. Darin zeigt sich, dass sie auf viele unerwartete Weisen verwendet wird und sowohl planvoll als auch durch glückliche Zufälle sichtbare und unsichtbare Probleme löst.

Die Aufgabe des Venture Capitals besteht letztendlich darin, solche Zeichen der Serendipität früh zu erkennen und in sie zu investieren, um die positive Entwicklung zu beschleunigen. So wird das Silicon Valley zu der ersten ökonomischen Kultur, die die natürliche Logik der Netzwerke bewusst voll und ganz annimmt. Wenn der Prozess gut funktioniert, fliessen Ressourcen von selbst dorthin, wo das stärkste Wachstum verzeichnet wird und am schnellsten Serendipität erzeugt wird. Je besser er funktioniert, geringer werden die Opportunitätskosten der Ressourcenverteilung.

Wenn man selbst daran beteiligt ist, erscheint einem die Problemlösung durch Serendipität als eine absolute Selbstverständlichkeit. Aus der Perspektive eines zielorientierten Problemlösers hingegen ist diese nur schwer von  Methode kaum von Verschwendung und unmoralischen Prioritäten zu unterscheiden.

Diese Wahrnehmung liegt hauptsächlich darin begründet, dass starke Grenzen in der geographischen Welt den Zugang zu den glücklichen Zufällen der Serendipität  bremsen können. Wenn Ressourcen sich nicht frei bewegen und die Serendipität vorantreiben können, können sie auch keine Probleme lösen, indem sie glückliche Zufälle in die Wege leiten, oder zusätzlichen Wohlstand schaffen. Die Folge ist eine zunehmende Ungleichheit zwischen vernetzten und geographischen Welten.

Diese Ungleichheit ähnelt oberflächlich der Ungleichheit innerhalb der geographischen Welt, die durch das Versagen der Finanzmärkte, durch Vetternwirtschat und Schmarotzertum entstanden sind. Somit kann es für Nicht-Technologen schwierig werden, einen Unterschied zwischen Wall Street und Silicon Valley festzustellen, obwohl sie zwei grundlegend verschiedene moralische Perspektiven und Konzepte der Problemlösung repräsentieren. Wenn beide unter extrem ungleichen Bedingungen zusammentreffen, wie im Cleantech-Bereich in den Ende des vergangenen Jahrzehnts, erweist sich der enorme Vorteil der vorherrschenden Bedingungen der geographischen. Im Fall von Cleantech war die Software nicht in der Lage, die Branche zu verzehren und ihre Probleme zu lösen, was grossteils auf hohe Subventionen und den Schutz der bereits bestehenden Unternehmen der Branche zurückzuführen ist.

Doch dieser Zustand ist nur temporär. Die vernetzte Welt gewinnt an Stärke und wir können ein deutlich verändertes Ergebnis erwarten, wenn sie sich das nächste Mal der Probleme im Cleantech-Bereich annimmt.

Angesichts der Fehlschläge und Beschränkungen, die mit jungen, aufstrebenden Technologien nun mal verbunden sind,  kann die vernetzte Welt als „unempfänglich“ gegenüber „echten Problemen“ erscheinen.

Auf diese Weise wirken sowohl Wall Street als auch Silicon Valley oft taub und wenig reaktionsfreudig gegenüber grossen und dringenden Weltproblemen, während sie in langweiliger Regelmässigkeit neue Milliardäre schaffen. Doch die Ursachen sind unterschiedlich. Die Probleme der Wall Street sind reale Symptome einer tatsächlichen Krise der sozialen und ökonomischen Mobilität in der geographischen Welt. Die Probleme des Silicon Valley hingegen bestehen, weil noch nicht jeder hinreichend an die vernetzte Welt angeschlossen ist, was ihre Macht beschränkt. Die beste Lösung, die wir bisher für Ersteres gefunden haben, besteht in periodischen Rettungsaktionen für „too big to fail“-Organisationen im öffentlichen und privaten Sektor. Das Problem der Konnektivität hingegen löst sich durch die stark zunehmende Verbreitung von Smartphones langsam und auf serendipitätsgeprägte Weise von selbst.

Dieser Unterschied zwischen den beiden Problemlösungskulturen wird auch auf makroökonomische Phänomene übertragen.

Im Gegensatz zu den oft künstlich geschaffenen Booms und Rezessionen auf den Finanzmärkten sind Booms und Rezessionen im technologischen Bereich ein wesentliches Merkmal der Schaffung von Wohlstand selbst. Carlota Perez wies darauf hin, dass ein Zusammenbruch im Technologiebereich tatsächlich oft enorme neue Möglichkeiten eröffnet, die in Boomzeiten überwuchert wurden. Der Zugang zum Glück der Netzwerke wird für grössere Teile der Bevölkerung enorm erweitert. So wurde beispielsweise durch das Platzen der Dotcom-Blase im Jahr 2000 ein sehr viel breiterer Zugang zum Entrepreneurship möglich und fast augenblicklich wurde die nächste Innovationswelle angetrieben.

Die aus Täuschung und Betrug geborene Krise auf dem Subprime-Hypothekenmarkt in den USA im Jahr 2007 hatte keine derartigen Effekte der Serendipität. Sie zerstörte allerorts Wohlstand, anstatt ihn zu erzeugen. Die darauf folgende globale Finanzkrise ist bezeichnend für eine breitere systematische Krise in der geographischen Welt.

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[1] Das Prinzip wurde vermutlich als Erstes vom Architekten Louis Sullivan im Jahr 1896 genannt.

[2] Scott Adams, The Dilbert Principle1997.