Die Serendipität der Streams

Ein Stream ist nichts anderes als eine Lebenswelt, die von all den Informationen gestaltet wird, die einem über vertrauenswürdige Kontakte – zu freien Menschen, Ideen und Ressourcen – aus unterschiedlichen Netzwerken zufliessen. Während in einer traditionellen Organisation nichts frei ist und alles seine festgelegte Rolle in einem grösseren System besitzt, tendiert in einem Stream alles zur Freiheit: sowohl frei wie in Freibier als auch frei wie in Redefreiheit. Soziale Streams, die durch Rechenleistung in der Cloud und auf Smartphones ermöglicht werden, sind kein schubladisierter Ort für einzelne, voneinander getrennte Aktivitäten. Sie bieten einen Kontext für alle Aktivitäten, der reich an Informationen und Verbindungen ist.

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Im Gegensatz zu durch Grenzen bestimmten Organisationen sind Streams das, was Acemoglu und Robinson als pluralistische Institutionen bezeichnen. Sie sind das Gegenteil von extraktiv: offen, inklusiv und in der Lage, Wohlstand auf Nicht-Nullsummenart zu erzeugen.

So werden beispielsweise auf Facebook freiwillig Verbindungen geschaffen (anders als bei in einem Organigramm festgelegten Beziehungen) und Bilder oder Notizen werden üblicherweise frei geteilt (anders als Fotos mit Copyright in einem Zeitungsarchiv). Es bestehen nur wenige Beschränkungen für eine weitere Verbreitung. Die meisten Funktionen der Plattform sind frei und kostenlos wie Freibier. Weniger offensichtlich ist, dass sie auch frei sind wie freie Rede: Sofern es nicht um Extreme geht, schreibt Facebook nicht vor, welche Arten von Gruppen auf der Plattform gegründet werden dürfen.

Wenn die drei wünschenswertesten Dinge in einer von Organisationen definierten Welt Lage, Lage und Lage1 heissen, dann lauten sie in der vernetzten Welt Verbindung, Verbindung, Verbindung. Nicht der Standort ist das Wichtigste, sondern die Verbindungen.

Streams sind in der menschlichen Kultur keine Neuigkeit. Die Seidenstrasse war ein Handelsstrom, der Asien, Afrika und Europa miteinander verband. Als es noch keine Freiberufler, Hacker und modernen Tüftler gab, die neue Lebensstile entwarfen, gab es die umherziehenden Bastler und Kesselflicker der frühen Moderne. Kollektive Erfindungsmilieus wie Cornwalls Bergbaudistrikt in der frühen Industrialisierung und das Silicon Valley heute sind Beispiele für solche Streams, genau wie die Hauptstrassen von florierenden Grossstädten, in denen man unerwartet auf Freunde treffen, durch Plakate und Aushänge von neuen Veranstaltungen erfahren sowie neue Restaurants oder Cafés entdecken kann.

Neu hingegen ist die Idee eines digitalen Streams, der durch Software geschaffen wird. Während die Geographie physische Streams dominiert, können digitale Streams die Geographie dominieren. Der Zugang zum Innovationsstrom des Silicon Valleys wird von geographischen Faktoren wie Lebenshaltungskosten und Immigrationshindernissen beschränkt – der Zugang zum Innovationsstrom von Github nicht. Auf einer belebten Hauptstrasse kann man nur Freunden begegnen, die zufällig an diesem Abend ebenfalls beschlossen haben auszugehen, doch mit einer Augmented-Reality-Brille wird es möglich, Freunden aus der ganzen Welt „über den Weg zu laufen“ und die eigenen physischen Erfahrungen mit ihnen zu teilen.

Streams sind ein idealer Kontext für ergebnisoffene Innovationen durch Tüftelei: Sie präsentieren ständig Menschen, Ideen und Ressourcen, die eigentlich in keinem Zusammenhang stehen, in einem gänzlich unerwarteten Nebeneinander. Das liegt daran, dass sie am Schnittpunkt mehrerer Netzwerke entstehen. Auf Facebook oder im privaten E-Mail-Posteingang findet man sowohl Neuigkeiten von der Familie, als auch von Kollegen. Dazu kommen möglicherweise Informationen aus anderen Netzwerken mit einer anderen Struktur, etwa von Twitter oder dem Newsfeed einer Nachrichtenagentur. Das bedeutet: Jede neue Information in einem Stream wird vor dem Hintergrund von sich überschneidenden, nicht exklusiven Kontexten und einer Vielzahl an unzusammenhängenden Zielen betrachtet. Gleichzeitig werden unsere eigenen Handlungen wiederum von anderen auf zahlreiche unzusammenhängende Weisen betrachtet.

In Folge solch unerwarteten Nebeneinanders kann man Probleme „lösen“, derer man sich noch gar nicht bewusst war, und Dinge tun, die noch niemand als lohnenswert erkannte. So kann beispielsweise das gleichzeitige Auftauchen eines bestimmten Schulfreunds und eines bestimmten Kollegen im selben Stream die Idee aufkommen, es könne sich lohnen, die beiden miteinander bekannt zu machen – eine kleine soziale Bastelei. Möglicherweise werden sogar eigene Probleme von anderen ganz ohne das eigene Zutun gelöst, weil man von so vielen anderen aus unterschiedlichen Perspektiven gesehen wird. Auf Twitter kommt es beispielsweise häufig vor, dass ein Freund, den man nur über Twitter kennt, eine wenig bekannte, aber wichtige Neuigkeit twittert, von der er glaubt, dass sie einen interessieren könnte und die man ansonsten verpasst hätte.

Wenn ein Stream durch solches Verhalten gestärkt wird, wird auch jedes daran partizipierende Netzwerk gestärkt.

Twitter und Facebook sind heutzutage die grössten weltweiten digitalen Streams, doch es gibt im Internet noch Tausende mehr. Spezialisierte Streams wie Github und Stack Overflow wenden sich an ein bestimmtes Publikum, aber stehen jedem offen, der von ihnen lernen möchte. Neuere Streams wie Instagram und Whatsapp erschliessen eine jüngere Kultur. Reddit entwickelte sich als ungewöhnlicher Anlaufpunkt, um durch die Interaktion mit aktiven Wissenschaftlern auf dem neuesten Stand der Forschung zu bleiben. Jeder, der ein agiles Softwareprodukt nach dem Prinzip des „unendlichen Beta “ entwickelt, setzt sich einem Stream der unvorhergesehenen Nutzungsmöglichkeiten aus, die von tüftelnden Benutzern entdeckt wurden. Slack verwandelt das Innenleben eines Unternehmens in einen Stream.

Dabei sind Streams nicht auf Menschen beschränkt. Auf Twitter gibt es bereits unzählige interessante Bots. Sie reichen von „House of Coates“ (ein Account, der von einem Smart Home aktualisiert wird) bis zu Raumsonden und sogar Haien, die von Forschern mit Sendern ausgestattet wurden.2 Facebook bietet Seiten, auf denen Filme und Bücher mit „Gefällt mir“-Angaben versehen und denen gefolgt werden kann.

Wer hingegen in einem herkömmlichen Büro sitzt und an einem Laptop arbeitet, der von einer IT-Abteilung nur für die berufliche Nutzung konfiguriert wurde, erhält nur aus einem Kontext Aktualisierungen und kann sie auch nur vor dem Hintergrund eines einzigen, exklusiven und totalisierenden Kontexts betrachten. Selbst wenn hochmoderne Tools verwendet werden, unterscheidet sich die Architektur der Informationen nur wenig von der Welt der Paperware. Wenn Informationen aus anderen Kontexten eindringen, werden sie üblicherweise als Sicherheitsverletzung behandelt, was in den meisten traditionellen Unternehmen ein Grund für Disziplinarmassnahmen ist. Mit den Menschen, denen man begegnet, ist man in durch den Organisationsplan zuvor festgelegten Beziehungen verbunden. Wenn zwischen Mitarbeitern mehrere verschiedenartige Beziehungen bestehen (beispielsweise sowohl als Teammitglieder als auch als Tennispartner), wird die Autorität der Organisation geschwächt. Dasselbe gilt für Ressourcen und Ideen. Jede Ressource ist an eine bestimmte „offizielle“ Funktion gebunden und jede Idee wird aus einer festgelegten Standardperspektive betrachtet und unterliegt einer festgelegten „offiziellen“ Interpretation – der „gemeinsamen Linie“ oder „Politik“ des Unternehmens.

Daraus folgt eine radikale Konsequenz. Wenn in einer gut funktionierenden Organisation keine Streams bestehen, betrachtet man dort die Realität auf eine Art und Weise, die Verhaltenspsychologen als funktionale Fixierung3 bezeichnen: Menschen, Ideen und Dinge haben dieser Sichtweise zufolge eine feststehende und eindeutige Funktion. Dies schränkt die Fähigkeit ein, neue Probleme auf kreative Weise zu lösen. In einer dystopischen Welt ohne Streams sind die wertvollsten Orte die innersten Heiligtümer – meistens die ältesten Organisationen, die am stärksten von neuen Informationen abgeschottet sind. Doch sie sind auch der Ort des grössten Wohlstands und bieten ihren Bewohnern die meiste Freiheit. In China beispielsweise lebt es sich immer noch am besten in den innersten Tiefen der kommunistischen Partei. In einem Grosskonzern ist es noch immer die Vorstandsetage.

Wenn Streams hingegen gut funktionieren, wird die Realität zunehmend das, was Ted Nelson anschaulich als intertwingled bezeichnete (eine Wortkombination aus intertwined, verflochten, und tangled, verwickelt). Menschen, Ideen und Dinge können mehrere, fliessende Bedeutungen haben, je nachdem, wovon sie umgeben sind. Jedes neue Netzwerk fliesst in den Stream ein und kreative Möglichkeiten werden schnell vervielfacht. Der interessanteste Ort, an dem man sich befinden kann, ist meist nicht im innersten Heiligtum, sondern am Rand des Geschehens. In den USA kann es nutzbringender und interessanter sein, ein junger und talentierter Mensch im Silicon Valley zu sein als ein leitender Mitarbeiter im Weissen Haus. Es ist nicht auszuschliessen, dass man als Gründer des am schnellsten wachsenden Startups mehr wirklichen Einfluss hat denn als Präsident der Vereinigten Staaten.

Den Unterschied zwischen den zwei Arten des Kontexts verstehen wir instinktiv. In einem Unternehmen betrachten wir das Eindringen von unpassenden Realitäten als Störung oder Unterbrechung und reagieren, indem wir versuchen, sie besser abzublocken. Wenn ein Stream hingegen zu homogen und zu wenig pluralistisch wird, beschweren wir uns darüber, dass er zu einem langweiligen und vorhersehbaren Ort wird, an dem wir nur noch unser eigenes Echo hören. Wir reagieren, indem wir neue Öffnungen schaffen und dafür sorgen, dass mehr unerwartete Ereignisse eintreten können.

Was wir hingegen nicht instinktiv verstehen, ist, dass Streams Motoren der Problemlösung und der Schaffung von Wohlstand sind. Wir sehen in ihnen Zonen des Spiels und der Unterhaltung und gehen dabei von der geographisch-dualistischen Annahme aus, das Spiel könne nicht gleichzeitig Arbeit sein.

In unserer Mär der zwei Computer wird die vernetzte Welt einen festen Platz als beherrschender planetenweiter Computer einnehmen, sobald wir diese Idee instinktiv verstehen und es nicht mehr möglich ist, Arbeit und Spiel voneinander zu unterscheiden.

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[1] Eine Wendung aus dem Immobilienbereich, die vermutlich auf die 1920er Jahre zurückgeht. Siehe Location, Location, Location von William Safire in der New York Times, 2009.

[2] More Than 300 Sharks In Australia Are Now On Twitter, NPR, 2012.

[3] Die funktionale Fixierung ist eine kognitive Voreingenommenheit, die dazu führt, dass Personen ausschliesslich die offensichtlichsten Funktionen von Objekten in Betracht ziehen.